Weltkrieg, Erster: Julikrise und Kriegsausbruch 1914

Weltkrieg, Erster: Julikrise und Kriegsausbruch 1914
Weltkrieg, Erster: Julikrise und Kriegsausbruch 1914
 
Der strahlende Sommer 1914 schenkte Europa nach Jahrzehnten des Friedens mit wachsendem Wohlstand eine unbeschwerte Ferienzeit. Der Hamburger Reeder Albert Ballin erkannte jedoch, dass die Zeit »friedlos« geworden war. Denn nicht nur zwischen den politisch bestimmenden Großmächten herrschten größte Spannungen, sondern auch die jeweiligen Gesellschaften standen den gewaltigen Modernisierungen und Veränderungen vielfach sorgenvoll und orientierungslos gegenüber. Alte Eliten suchten sich verbissen gegen Bürger und Arbeiter zu behaupten, die ihre Mitbestimmung nur schleppend durchsetzen konnten. Die Staaten wurden daher eher schlecht als recht verwaltet, und die Zeit großer Staatsmänner wie Otto von Bismarck oder William Ewart Gladstone schien unwiderruflich vorbei zu sein. Soziale Spannungen waren die Folge, und Kulturpessimisten hatten Konjunktur; dasselbe galt für Bücher, die Kriegsvisionen beschrieben und produzierten. Bestseller sprachen von einem erlösenden und unvermeidlichen Krieg in naher Zukunft. In Bildern, die nichts mit der Realität des Ersten Weltkriegs zu tun haben sollten, ersehnte man ein reinigendes Gewitter. Dieses sollte die ausstehende innere Integration der Gesellschaften herbeizaubern und den Staaten die vermisste Sicherheit und nationale Größe bringen. Von daher erklären sich die berühmten und berüchtigten Metaphern, mit denen Zeitgenossen den Ausbruch des Ersten Weltkrieges kommentierten. So sprach der britische Außenminister Sir Edward Grey davon, dass in Europa die Lichter ausgingen, womit er suggerierte, dass wie in der Physik ein Prozess ablief. Ähnlich argumentierte Winston Churchill, der Erste Lord der britischen Admiralität, als er feststellte, 1914 seien die »Schalen des Zorns« gefüllt gewesen. Und der deutsche Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg sah, dass »die Direktion verloren und der Stein ins Rollen geraten« sei, fügte allerdings philosophierend und nun doch sorgenvoll hinzu, auf Europa laste ein »Fatum, größer als Menschenmacht«, und es drohe ein »Weltenunheil«. Moderne Historiker sprechen häufig von strukturellen Zwängen, die 1914 das Desaster ausgelöst hätten.
 
 Die Frage der Kriegsschuld
 
Eindeutig ist dieser Befund der europäischen Staatengemeinschaft jedoch nicht, im Gegenteil: Keine Macht verfocht bei Kriegsausbruch konkret expansive Ziele. Die 1914er-Krise fiel zudem in eine Zeit, in der es Anzeichen dafür gab, dass der Kulminationspunkt der internationalen Hochspannung überschritten war, dass solche Krisen beherrschbar waren und dass insgesamt die Phase eines überhitzten Imperialismus ohne großen Krieg enden würde. Ferner zogen alle Europäer aus einem blühenden internationalen Handel Nutzen, und deren innere Querelen verloren an Gewicht, da die USA und Japan als neue Groß- und Weltmächte weiter erstarkten. Schließlich blickte nicht jeder Europäer pessimistisch in die Zukunft. Der zielstrebig erarbeitete wachsende Wohlstand, der industrielle Aufschwung und die blühende Wissenschaft und Kultur vermittelten nämlich auch ein optimistisches Gefühl der Stärke, von der aus die inneren und äußeren Spannungen beherrschbar erschienen. Reformen und Modernisierung waren, wie selbst das rückständige Zarenreich zeigte, unaufhaltsam. Im Nachhinein lässt sich somit schwer sagen, ob 1914 strukturelle Rahmenbedingungen zum Krieg führten oder ob es — in einer prinzipiell offenen Situation — eine aktive und gestalterische Politik gab. Bei der Frage nach einer möglichen Schuld am Krieg belegen schon die genannten Namen Grey, Churchill oder Bethmann Hollweg, dass die Zeit nicht besonders unfähige oder gar kriegslüsterne Politiker hervorgebracht hatte. Frankreichs Präsident Raymond Poincaré, der russische Außenminister Sergej Dmitrijewitsch Sasonow oder der ungarische Ministerpräsident István Graf Tisza im Habsburgerreich bestätigen diesen Sachverhalt. In allen Staaten standen — eine moralische Ächtung des Krieges gab es noch nicht — auch bei den Militärs »Tauben« neben »Falken«. Dabei war keineswegs abzusehen, dass Letztere, etwa die Generalstabschefs und Verfechter eines »Präventivkrieges« Helmuth von Moltke in Deutschland und Franz Graf Conrad von Hötzendorf in Österreich, sich durchsetzen würden.
 
Der Ereignisablauf stellt sich wie folgt dar: Am 28. Juni 1914 fielen der österreichische Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand und seine Frau in Sarajevo einem Attentat zum Opfer, dessen Drahtzieher unschwer in Serbien auszumachen waren. Damit drohte aufs Neue der Konfliktherd Balkan den Frieden Europas zu gefährden, denn hinter Serbien stand Russland, und mit Österreich und Russland prallten Mitglieder feindlicher Bündnissysteme aufeinander, Zweibundmächte auf der einen, Ententemächte auf der anderen Seite. Die große Frage war, ob — in schon traditioneller Weise — Großbritannien und Deutschland ihre in Südosteuropa engagierten Bündnispartner zurückhalten würden. Österreich wollte nicht nur mit den bosnischen Königsmördern abrechnen, sondern auch mit den Serben und deren großserbischer Politik. Für einen regionalen Krieg suchte man die Rückendeckung Deutschlands und erhielt am 5./6. Juli den berüchtigten »Blankoscheck« zum Losschlagen. Deutschland deckte damit im Voraus jede Sanktionsmaßnahme des Habsburgerreiches und suchte ein schnelles Vorgehen gegen Serbien zu forcieren. In Europa gab es zunächst kaum Sympathien für die Attentäter. Doch Österreich vermochte erst am 23. Juli ein provokatives Ultimatum an Serbien zu richten. Jetzt drohte der Konflikt zu einer Konfrontation zwischen Zweibund und Entente zu eskalieren. Intern votierte Russland schon zwei Tage später für einen Krieg der Großmächte, weil es Serbien nicht preisgeben wollte. Am 28./29. Juli fiel die Entscheidung. Eine britische Vermittlung scheiterte. Österreich brach den gegen Serbien begonnenen Krieg nicht ab, obwohl aus einem begrenzten nun ein großer europäischer Krieg wurde. Und Russland löste mit seiner Mobilmachung jenen Kriegsmechanismus aus, den die Bündnisse vorgezeichnet hatten. Am 1. August erklärte Deutschland Russland und am 3. August auch Frankreich den Krieg, und als deutsche Truppen auf dem Weg zur Niederwerfung Frankreichs in das neutrale Belgien einrückten, trat am 4.August Großbritannien in den Krieg ein. Die Kriegsfurie begann in Europa zu wüten.
 
Österreichs Kampf um den Großmachtstatus
 
Bei der Frage nach Bewusstsein und Absichten, mit denen die Staaten in der Julikrise handelten, richtet sich der Blick zunächst auf die von dem Attentat unmittelbar betroffene Habsburgermonarchie. Österreich-Ungarn litt unter der Auszehrung seines Großmachtstatus. Der Staat besaß als einzige Großmacht ausschließlich sein europäisches Territorium. Für einen langen Großmächtekrieg fehlten Ausrüstung und Reserven, und für den Fall eines Sieges konnte der Staat neue Nationalitäten nicht verkraften; sie hätten die Österreich ohnehin vor eine Zerreißprobe stellenden Nationalitätenprobleme unbeherrschbar gemacht. Der von Russland und Serbien ausgehende ständige Druck wurde jedoch als existenzgefährdend angesehen. Das Attentat von Sarajevo drohte das Prestige des Staates weiter zu zerstören und setzte einen elementaren Hass gegen den Erzrivalen Serbien frei. Man wollte Rache, Genugtuung nicht nur für den Mord am Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand, sondern auch eine generelle Abrechnung. Generalstabschef Conrad hatte seit langem einen Präventivkrieg gepredigt. Österreich sollte in letzter Minute, in der die Kräfte hierzu noch ausreichten, demonstrieren, dass man aktiv und offensiv vorgehen konnte. Sarajevo erschien als günstiger Anlass zum Losschlagen, und der Hass gegen Serbien einte die Führung des Landes im Sinne Conrads. Wenn Österreich sich jetzt, so meinte man, aufraffe und Krieg führe, dann würde es den um den Frieden besorgten und durch die Diskriminierung Serbiens gelähmten Europäern die eigene Tatkraft unter Beweis stellen. Ein erlösender Schlag werde die Integrität und den Großmachtstatus des Landes für Jahrzehnte retten. Der berühmte Blankoscheck aus Deutschland ist also wahrscheinlich gar nicht entscheidend gewesen.
 
Das somit verständliche Wunschszenario Österreichs war ein lokalisierter, kurzer und erfolgreicher Krieg gegen Serbien. Mitte Juli hatte man sich hierzu entschlossen, benötigte jedoch aus mancherlei Gründen — so weilte Frankreichs Staatsführung gerade zu Gesprächen in Sankt Petersburg — viel Zeit. Russland konnte dadurch eine politisch-militärische Gegenfront aufbauen. Doch hatte die österreichische Führung ein russisches Eingreifen als Eventualität von vornherein eingeplant. Selbst wenn das Zarenreich seinem Balkanschützling zu Hilfe käme und ungeachtet dessen, dass man für einen Zweifrontenkrieg gegen die Entente nicht gerüstet war, wollte man um den Großmachtstatus Vabanque spielen. Die Existenzkrise im Nacken, machte das Feindbild »Serbien« blind, und man ließ »das Rad der Geschichte rollen«. Notfalls wollte man, wie es die Opfer der Titanic-Katastrophe vorgemacht hatten, in tadelloser Haltung untergehen. Die österreichische Führung verpasste somit in den Tagen nach dem 28. Juli den Absprung von einem irrationalen Kriegsplan, wodurch auch in Berlin die dort in letzter Minute verhandlungsbereiten Kräfte chancenlos wurden.
 
Das »kalkulierte Risiko« — Krieg zur Sicherung des Deutschen Reichs
 
Bei Österreichs Zweibundpartner Deutschland lag durch Sarajevo keine unmittelbare und aktuelle Bedrohung vor. Frappierenderweise herrschte aber dennoch die gleiche Existenzangst, die »Falken« und »Tauben« auch hier zusammenrücken ließ. In Berlin meinte man, eine letzte Chance zur Sicherung des Deutschen Reiches nutzen zu müssen. Es gab also eine deutsch-österreichische Interessenkonvergenz. Grundlage des Denkens war eine verbreitete Unzufriedenheit mit dem machtpolitischen Status des Landes. Das Deutsche Reich spielte auf dem Kontinent eine begrenzt hegemoniale Rolle, war aber bei der Verteilung kolonialen Besitzes weithin zu spät gekommen. Die Ententemächte wachten argwöhnisch darüber, dass Deutschland nicht auch noch — ergänzend zu seiner dominierenden mitteleuropäischen Stellung — eine entsprechende Weltposition erhielt. Das schmerzte in Deutschland, da ein stürmischer Aufschwung in Wirtschaft und Handel die Forderung als berechtigt erscheinen ließ, zum Kreis der Weltmächte zu gehören. Man schätzte die eigenen Forderungen als moderat ein, hatte aber durch die Flottenpolitik, große Krisenszenarien wie in den Marokkokrisen oder auch durch kleinere machtpolitische Coups die Entente nur fester zusammengeschweißt.
 
Die bündnispolitische Lage des Deutschen Reichs vor 1914 war daher fatal. Als Partner stand nur das krisengeplagte Österreich zur Verfügung. Die deutsche Führung war angesichts dieses Dilemmas gespalten. Bethmann Hollweg wollte eine militärische Festigung der kontinentalen Position seines Landes bei nur bescheidenem weltpolitischem Aufschwung und in Juniorpartnerschaft zu Großbritannien. Der deutsche Reichskanzler wusste um den Wert einer berechenbaren Politik und wollte mit dieser die Vision einer neuen Weltordnung verwirklichen, in der liberale Leitsätze das zeitgenössische Vertrauen in pure Machtpolitik ablösen sollten. Vor allem Militärs wie Moltke sahen demgegenüber die bündnis- und machtpolitische Situation Deutschlands als so verfahren an, dass sie einen Präventivkrieg als Ausweg predigten. Zudem bestand das Risiko, dass der labile Kaiser Wilhelm II. den chauvinistischen Admiral Alfred von Tirpitz zum Nachfolger Bethmann Hollwegs berufen würde. Selbst Bethmann Hollweg, der volles Vertrauen in die militärische Kompetenz der Generäle hatte, sah in der Julikrise alptraumhaft den machtpolitischen Aufschwung Russlands, das 1916/17 ein gewaltiges Rüstungsprogramm abgeschlossen haben würde und dann Österreich politisch erpressen könnte. Schockiert zeigte er sich zudem über eine britisch-russische Flottenkonvention; in Berlin fühlte man sich nun vollkommen eingekreist. In dieser Situation wählte der Reichskanzler eine Politik des »kalkulierten Risikos«: Nach Sarajevo sollte Österreich in einer Blitzaktion Serbien niederwerfen. Diesen begrenzten militärischen Schlag wollte man mit einer umfassenden politischen Offensive verbinden, deren Ziel es war, die Entente auseinander zu manövrieren.
 
Auch Bethmann Hollweg stellte sich die Frage, was geschehen würde, wenn Russland wider Hoffen seinem Juniorpartner Serbien zu Hilfe kommen würde. Der Kanzler meinte, dieses Risiko eingehen zu müssen, da die Militärs jetzt noch die Chance sahen, dem Zarenreich Paroli bieten zu können: Wenn die Russen ungerüstet und in einer für sie fatalen politischen Situation zuschlagen würden, dann würden sie dies später unter besseren Bedingungen erst recht tun. Angesichts der Eskalation der Krise Ende Juli dachte der Kanzler an einen Rückzieher, und eine Rückendeckung durch den Kaiser schien hierbei denkbar. Doch Moltke beharrte auf seiner Kompetenz in Sachen deutsche Sicherheit und meinte, den einzig bestehenden Kriegsplan zur Anwendung bringen zu müssen. In dem berüchtigten Schlieffenplan ging die militärische Führung Deutschlands wie die aller Staaten davon aus, dass ein Krieg nur durch Offensivstrategien zu gewinnen sei. Geplant war, in einem Blitzkrieg zunächst Frankreich, dann Russland niederzuwerfen. Und da man Frankreich nur bei Verletzung der belgischen Neutralität schlagen zu können glaubte, lag es in der Konsequenz des Schlieffenplans, dass man auch Großbritannien, das Bethmann Hollweg neutral halten wollte, unter die Kriegsgegner einreihte. Die Politik eines »kalkulierten Risikos« erwies sich somit als Desaster. Statt eines politischen Coups zur Sicherung der Zweibundmächte fand das statt, was man nur als äußerste Eventualität eingeplant hatte: ein Krieg gegen alle drei Ententemächte. Bethmann Hollweg wie Moltke hatten schlimme Ahnungen. Ersterer sprach von einer drohenden Umwälzung alles Bestehenden, und Moltke gehörte zu den wenigen in Europa, die nicht an einen Blitzkrieg glaubten; er erahnte eine »gegenseitige Selbstzerfleischung« Europas.
 
 Leitmotive der Entente
 
Russlands Balkaninteressen
 
Russland hatte sich nach seiner Niederlage im Russisch-Japanischen Krieg, nach Revolution und halbherzig-unvollendeter Reform wieder auf seine Europapolitik konzentriert. Das schon genannte enorme Aufrüstungsprogramm wurde vor dem Hintergrund labiler innerer Verhältnisse vorangetrieben, die man durch eine nationale Prestigepolitik zu überspielen suchte. Zu dieser gehörte, dass man als Schutzherr der Südslawen auftrat, wobei man den zeitgenössischen Panslawismus nutzte und förderte. Trotz Groß- und Weltmachtstellung litt Russland an der unglücklichen geographischen Struktur des Landes, vor allem dem fehlenden Zugang zu Häfen, die unverzichtbare Basis für eine Weltpolitik waren. Balkanpolitik und Aufrüstung bekamen hier ihren Sinn. Sie sollten zur Gewinnung der Meerengen und zu einer Beerbung des Osmanischen Reiches führen. Österreich sollte vom Balkan zurückgedrängt und mehr noch sollten Deutschlands Orientinteressen und dessen Rückendeckung für Wien ausgeschaltet werden. Russlands Politik war also deutlich offensiver als die der übrigen Großmächte. In zeittypischer Umformung dieses Sachverhalts urteilte Sasonow, dass Deutschland Russland den freien Zutritt zu den Meeren versperre und damit dessen Sicherheit gefährde. Zudem missbrauche das Deutsche Reich Russland als Rohstofflieferanten und nützlichen Absatzmarkt. Der russische Außenminister wollte daher eine innen- und außenpolitische Lage schaffen, in der Russland einen Großmächtekrieg erfolgreich würde bestehen können. Dabei vertrat Sasonow eine Mittelposition zwischen den Nationalisten, die einen Krieg zwischen Slawentum und Germanentum predigten, und einer deutschfreundlichen Fraktion. Im Sommer 1914 sah er die bündnispolitische Situation des Landes als so gefestigt an, dass er einen Großmächtekrieg für möglich hielt, und kommentierte prompt das österreichische Ultimatum an Serbien mit der Bemerkung: »Das ist der europäische Krieg«. Ohne Rücksicht auf die Realitäten erklärte die russische Führung, das Land sei politisch, wirtschaftlich und militärisch gerüstet. Auf den britischen Vermittlungsvorschlag wollte man eingehen, allerdings zugleich Serbien nicht fallen lassen. Als die Mittelmächte jedoch weiterhin eine politische Kapitulation der Tripelentente anstrebten, machte Russland mobil, wohlwissend, dass dies den Großmächtekrieg bedeutete.
 
»Erbfeindschaft?« — Frankreichs Bündnistreue zu Russland
 
Russlands Bündnispartner Frankreich findet in der Vorgeschichte des Ersten Weltkriegs meist wenig Beachtung. Ungeachtet der zeitgenössisch diesseits und jenseits des Rheins gepflegten »Erbfeindschaft« bleibt jedoch Frankreichs Engagement erklärungsbedürftig, denn der Krieg entzündete sich an einem Balkankonflikt, und mit Österreich gab es kaum Reibungspunkte. Auch Frankreich wähnte sich in einem Sicherheitsdilemma, bei dem der kontinentale Gegensatz zum Deutschen Reich entscheidend war. Sorgen bereitete die politische und wirtschaftliche Dynamik des östlichen Nachbarn, dessen Heer man fürchtete, während man durchgängig die eigene demographische Unterlegenheit betonte. Kollisionen in der Weltpolitik, vor allem in Nordafrika, aktualisierten das Feindbild. Unter Poincaré plante Frankreich keineswegs bewusst einen Revanchekrieg für die Niederlage im Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71, in dem es das Elsass und den östlichen Teil Lothringens hatte abtreten müssen. Dennoch baute man die Bereitschaft zu einem Großmächtekrieg systematisch aus. Vor allem arbeitete Poincaré an einer »Militarisierung« des Bündnissystems, der vor 1914 allgemein erhebliches Gewicht beigemessen wurde. Entente wie Zweibund wurden mit Militärabsprachen unterfüttert, die wegen der zugrunde liegenden Offensivstrategien den Verhandlungsspielraum für den Fall von Krisen minimalisierten. Besonders kümmerte der französische Präsident sich um die Kooperation mit Russland. Enorme Kapitalhilfen dienten vor allem dem Ausbau des russischen Straßen- und Schienennetzes im Westen, und diese militärpolitische Komponente verschreckte die Deutschen. Seit 1912 deckte Poincaré zudem alle Eventualitäten der russischen Balkanpolitik. Frankreichs Politik in der Julikrise zeugte daher von größter Gradlinigkeit und Kontinuität. Die Republik folgte skrupellos der Erwiderung Russlands auf die Aktion der Zweibundmächte.
 
Pax Britannica — Großbritanniens Kampf um das Gleichgewicht der Mächte
 
Großbritanniens Kriegseintritt überraschte demgegenüber nicht nur die deutsche Reichsleitung; er kontrastierte auch mit unmittelbar vorausgegangenen Ausgleichsbemühungen gegenüber Deutschland, etwa bezüglich der portugiesischen Kolonien oder der Bagdadbahn, und er stand im Widerspruch zu erfolgreichen Vermittlungsaktionen in vorangegangenen Balkankrisen. Hintergrund dieses vermeintlichen Kurswechsels war eine tiefe Sorge um den Fortbestand der Pax Britannica. Gesichert durch eine unschlagbare Flotte und gestützt auf ein zukunftsweisendes politisches System sowie auf einen Vorsprung in Industrie und Handel hatte Großbritannien im 19. Jahrhundert die Weltpolitik bestimmt. Durch die rasanten Veränderungen um die Jahrhundertwende wurde dieser umfassende Vorsprung Großbritanniens aufgebraucht und die Pax Britannica infrage gestellt. Besonders betroffen hatte man sich durch die Tirpitz'sche Flottenpolitik gezeigt. Doch auch weiterhin fühlte man sich ungeachtet des Bethmann-Hollweg'schen Kurswechsels durch das Deutsche Reich insbesondere als Handelskonkurrent und als weltpolitischer Störenfried am meisten bedroht. 1914 war eine mit Russland und Frankreich »arbeitsteilig« durchgeführte Eindämmung Deutschlands zu beobachten, und man wollte eine Sprengung der Tripelentente auf keinen Fall hinnehmen. So zeigte man sich gereizt, als Deutschland beim Aufbau des Krisenszenarios auf dem Balkan beteiligt war, zumal es enge Beziehungen Großbritanniens zu Serbien gab. Dennoch suchte man nach dem 28. Juli zu vermitteln. Der deutsche Einmarsch in Belgien wurde aber als maßgeblicher Indikator dafür angesehen, dass Großbritannien Grund hatte, in den Krieg einzutreten. Auch in Großbritannien herrschte ein Sicherheitssyndrom, demzufolge Deutschland das Gleichgewicht Europas und damit britische Lebensinteressen bedrohte.
 
Die in der Julikrise vertretenen Positionen erscheinen heute befremdlich. Bei allen Staaten verband sich eine krude Mischung aus Bedrohungsängsten und Groß- bzw. Weltmachtambitionen, entstand aus Frustration und grimmiger Entschlossenheit, aus Fatalismus, ja Todessehnsucht und blindem Aktionismus eine brisante Mixtur. Die Staaten befanden sich in kollektiver Panik, aus der heraus sie in redlichem Empfinden Defensivstrategien entwarfen, die im Kern aber Aggressionen darstellten. Das konkrete Kriegsszenario hatten die Zweibundmächte aufgebaut, die somit eine besondere Schuld trifft. Geichwohl fällt ein einseitiger Schuldspruch schwer, denn ohne Grund fühlten sich weder Österreich noch Deutschland in die Enge getrieben, und alle beteiligten Mächte hätten leicht den Großmächtekrieg verhindern können. Viele merkwürdige Einseitigkeiten der Zeit stechen ins Auge, allen voran eine Geringschätzung der Segnungen des Friedens und das alternativlose und blinde Vertrauen in jene machtorientierte Groß- und Weltmachtpolitik der europäischen Staaten, die sichtlich dem Ende entgegenging. Zu den Sonderbarkeiten dieses Konflikts gehörte zudem, dass er nicht nur von alten Eliten geschürt wurde. Beteiligt waren die Bürger der Staaten, die in jener Zeit die Prinzipien des Weltbürgertums gering veranschlagten, aber auch politische Minderheiten, die bislang unterdrückt gewesen waren und die nun, befangen von der Idee, dass die Vaterländer in Gefahr seien, durch Einsatz und Kampf die Integration in die jeweiligen Staatengemeinschaften herbeiführen wollten. Spektakulär war hierbei besonders das Ende der machtvoll erscheinenden Arbeiterinternationale: Die von der deutschen Führung genährte Suggestion, dass Russland der Aggressor sei, führte die deutschen Sozialisten zur Akzeptanz des Krieges und deren Haltung wiederum ließ die französischen Arbeiter nicht zweifeln, dass Frankreich sich verteidigen müsse.
 
Prof. Dr. Günter Wollstein
 
Weiterführende Erläuterungen finden Sie auch unter:
 
Weltkrieg, Erster: Kriegsziele und Friedensbemühungen
 
Grundlegende Informationen finden Sie unter:
 
Europa: Rivalitäten, Wettrüsten, Krisenherde im ausgehenden 19. Jahrhundert
 
 
Berghahn, Volker R.: Sarajewo, 28. Juni 1914. Der Untergang des alten Europa. München 1997.
 
Decisions for War, 1914, herausgegeben von Keith Wilson. London u. a. 1995.
 Epkenhans, Michael: Neuere Forschungen zur Geschichte des Ersten Weltkrieges, in: Archiv für Sozialgeschichte, Band 38. Bonn 1998.
 
Der Erste Weltkrieg. Wirkung, Wahrnehmung, Analyse, herausgegeben von Wolfgang Michalka. München u. a. 1994.
 Feldman, Gerald D.: Armee, Industrie und Arbeiterschaft in Deutschland 1914 bis 1918. Aus dem Englischen. Berlin u. a. 1985.
 Ferro, Marc: Der große Krieg. 1914-1918. Aus dem Französischen. Frankfurt am Main 1988.

Universal-Lexikon. 2012.

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